Die beiden Naturen des Menschen

Die beiden Naturen des Menschen

Alle Einweihungslehren offenbaren, dass der Mensch in sich die gesamte Schöpfung verkörpert. Sie haben diese Idee mit dem Begriff »Mikrokosmos« zum Ausdruck gebracht. Der »Makrokosmos« ist die große Welt, das Universum, und wir als »Mikrokosmos«, die kleine Welt, spiegeln alles wider, was in den anderen Regionen des Universums existiert, denn alles, was existiert, ist in uns enthalten. Diese Erkenntnis erklärt die Arbeit der Eingeweihten. Da sie innerlich alle Mittel besitzen, gelingt es ihnen, den Himmel zu berühren, indem sie in sich selbst feinstoffliche Wirbel und Strömungen erzeugen.

Unglücklicherweise ist auch die Hölle in uns enthalten. Die Hölle und das Paradies liegen im Menschen dicht beieinander, und es hängt von ihm ab, ob er das eine oder das andere zum Ausdruck bringt.

Hölle und Paradies entsprechen also symbolisch den beiden Naturen, die der Mensch in sich trägt: der höheren Natur oder Individualität und der niederen Natur oder Personalität. Diese Zweiteilung ist jedoch eine gewollte Vereinfachung.

Man kann den Menschen in so viele Bereiche einteilen, wie man will. Nehmen wir als Beispiel die Anatomisten. Manchmal stellen sie nur das Knochensystem dar, das Skelett, oder nur das Kreislaufsystem mit den Arterien, den Venen, den Kapillaren oder aber das Muskelsystem, das Nervensystem usw. Es handelt sich dabei immer um den Menschen, aber jedes Mal unter einem anderen Aspekt dargestellt. Und auch die Geografen zeigen uns nicht alle Aspekte eines Landes gleichzeitig, wenn sie Karten anfertigen. Auf den physikalischen Karten sind die Gewässer, die Berge und die Ebenen dargestellt, auf den geologischen Karten die Art des Geländes; und es gibt auch wirtschaftliche Karten, politische Karten usw. Und so ist es in allen Bereichen. Also bedienen sich auch die Eingeweihten verschiedener Einteilungen, genau wie die Anatomisten oder die Geografen, je nach den Aspekten, die sie erklären wollen. Sie verwenden zahlreiche Teilungssysteme, basierend auf den Zahlen 3, 4, 7, 12, 36, 72, 144 usw. und man kann auch noch andere finden. Die Teilung in zwei ist jedoch viel klarer und für jedermann verständlich.

Der Mensch besitzt also zwei Naturen. Er steht zwischen beiden, wobei er sich entweder von der einen oder von der anderen beeinflussen lassen kann.

Die Personalität besitzt die unterirdischen Reichtümer, die Rohstoffe, das heißt Instinkte, Wünsche, Leidenschaften, Begierden usw. Sie ist stark und mächtig. Ihr einziger Fehler ist, dass sie alles auf das niedere Ich hin ausrichtet, aber sonst ist sie sehr fähig, sehr schlau, sehr listig und hat viele Tricks auf Lager. Sie ist nicht absolut schlecht, denn in ihrer Ichbezogenheit behütet, bewahrt, erhält und vergrößert sie die Besitztümer des Menschen. Aber was ihr fehlt, ist moralisches Bewusstsein, Skrupel, die wahre Religion, Nächstenliebe, Großzügigkeit, Unparteilichkeit, Opferbereitschaft und Sanftmut. Sie ist dem Tier noch sehr nahe.

Was hingegen die Individualität betrifft, so besitzt sie alle guten Eigenschaften, die himmlischsten, strahlendsten, herrlichsten Möglichkeiten; alles, was freigebig ist, alles Große, Edle und wahrhaft Spirituelle ist von ihr inspiriert. Nur ist sie eine noch unbekannte, unerforschte Wirklichkeit. Es gibt vergleichsweise nicht so viele Beispiele, Bücher oder Kunstwerke über dieses Thema, und kaum Vorbilder, um die Menschen in ihre Richtung zu führen. Sie bleibt weit entfernt. Die Menschen schaffen es nicht, sich ihrer Sprache anzupassen, sie zu verstehen. Das ist der Grund, warum diese Natur, die reichhaltigste und großartigste, die es gibt, noch immer das Vorrecht für eine ganz kleine Minderheit von Menschen bleibt, die von der Mehrheit als Spinner, Geistesgestörte betrachtet werden – als »Sonnenverrückte«.

Die Personalität, die nichts anderes kennt als zu nehmen, ist mit der Erde vergleichbar, während die Individualität, die ununterbrochen gibt, mit der Sonne vergleichbar ist.

Die Sonne veranschaulicht die Tendenz des Gebens, während die Erde die Tendenz des Nehmens veranschaulicht. Das soll aber nicht heißen, dass die Erde gar nichts gibt. Doch, mit dem, was sie empfängt, bringt sie Früchte und Blumen hervor, aber für sich. Glaubt ihr, dass die anderen Sterne etwas von diesen Blumen und Früchten haben? Nein, sie sind für sie selbst da oder für ihre Kinder, was auf das Gleiche herauskommt. Die Erde macht also etwas aus dem, was sie genommen hat, aber sie behält es für sich. Und auch die Personalität macht etwas aus dem, was sie nimmt, aber sie behält alles für sich. Das, was die Sonne hervorbringt, schickt sie hingegen sehr weit in den unendlichen Raum hinaus, damit viele andere Geschöpfe davon profitieren können. Hier habt ihr also zwei Gesetze: das Gesetz der Erde, die nimmt und das Gesetz der Sonne, die gibt.

Das Nehmen ist die alte Lehre. Das Geben ist die neue Lehre. Und was ist die größte Gabe? Wenn wir von Geben sprechen, handelt es sich nicht darum, immer alles irgendjemandem zu geben; nein, sondern darum, seine Kräfte, seine Gedanken, sein Leben den lichtvollen Geistern, den Engeln, den Erzengeln, den Heiligen, den Propheten, dem Herrn zu geben. Wenn man dazu fähig ist, sein Leben dem Ewigen zu weihen, heißt das, dass man sehr weit gegangen ist, dass man das Gesetz der Sonne verwirklicht hat. Aber der Mensch kann nicht sein Leben geben, solange er noch ganz nah bei seiner Personalität ist. Denn die Personalität wird ihn davon abbringen, indem sie versucht, ihn zu überzeugen, dass es idiotisch ist. Dann wird er nachgeben und wird es nie erreichen, zu einer Gottheit zu werden. Um zu einer Gottheit zu werden, muss man den Gesetzen der Sonne gehorchen.

Das Schicksal des Menschen hängt von seiner Entscheidung ab, ob er seiner Personalität oder seiner Individualität den Vorrang einräumt.

Wenn der Mensch nur seine Personalität befriedigen will, ist sein Schicksal bereits vorgezeichnet: Er belästigt die anderen durch seinen Egoismus und seine Gewalttätigkeit und macht sich Feinde. Wenn er übertreibt und die Grenzen überschreitet, gibt es Gegenschläge und er kann angegriffen werden, bis zur vollständigen Vernichtung. Er bekommt also Lektionen erteilt und Schläge, bis er versteht, dass er nicht ausschließlich Diener seiner Personalität sein darf.

Derjenige hingegen, der sich entscheidet, seiner göttlichen Natur zu folgen, fühlt sich dazu gedrängt, andere Eigenschaften zu entfalten, die ihn so sympathisch machen, dass ihn jedermann liebt, weil er wie die Sonne geworden ist. Vorher machte er sich Sorgen und litt, weil seine Personalität ihn hin und her schüttelte und ihn gegen die Wände schleuderte und gegen die ganze Welt stellte. Wenn er auf seine Individualität hört, so löst er in sich himmlische Strömungen aus und entdeckt, dass er sich niemals so reich, so klar, so stark gefühlt hat.

Im spirituellen Leben spielt der Verstand seine Rolle als Analytiker, Kritiker und Richter.

Der Verstand befindet sich an der Grenze zwischen der niederen und der höheren Welt. Oberhalb des Verstandes erstreckt sich die göttliche Welt, unterhalb die höllische. Wer das weiß, versteht, dass es von ihm abhängt, ob sich die Türen zur göttlichen Welt oder die zur Hölle öffnen. Da sich der Mensch durch seinen Verstand an der Grenze dieser beiden Welten befindet, ist seine Bedeutung in der Natur unermesslich groß. Es hängt von ihm ab, von seiner Einstellung, ob bestimmte Ereignisse stattfinden und ob der Himmel oder die Hölle sich über die Erde ergießen soll. Der Mensch ist die Tür zu den Sonnenkräften auf der Erde, so wie die Sonne die Tür zu den göttlichen Kräften im Sonnensystem ist. Die Menschheit hat also eine unermesslich wichtige Rolle im Universum zu spielen.

Der Verstand sollte sich in folgenden Bereichen üben:

1. der Analyse der Methoden und der Sprache, die jeweils für die Personalität und die Individualität charakteristisch sind.

Jeder Mensch auf der Erde muss zugeben – sofern er bereit ist, für einige Minuten aufrichtig zu sein –, dass von Zeit zu Zeit seine höhere Natur zu ihm spricht, um ihn zu warnen, wenn er gerade ein unheilvolles Vorhaben ausführen oder eine unheilvolle Entscheidung fällen will. Die göttliche Natur flüstert. Sie ist fein, zart und aufmerksam. Sie macht niemals Gebrauch von Gewalt, Fanfaren und großem Getöse. Sie flüstert ihre Warnung zweimal, dreimal, sehr leise. Und meistens merkt der Mensch, dem das Unterscheidungsvermögen fehlt, nicht einmal, dass seine höhere Natur zu ihm spricht.

Die Personalität hingegen findet immer eine Methode sich aufzudrängen und ihr Ziel zu erreichen. Tag und Nacht macht sie Lärm und stellt Forderungen. Sie ist sogar dazu im Stande, die hochrangigste Delegation von Gelehrten und Philosophen zum Gehirn zu schicken, um den armen Tropf zu überzeugen, dass er sich täuscht, dass er den falschen Weg einschlägt, wenn er der höheren Natur nachfolgt und dass er wieder umkehren muss. Und oft gelingt es ihr, ihn zu überzeugen. Wie viele Leute haben sich getäuscht, weil sie nicht zu unterscheiden vermochten, welche von den beiden Naturen gerade zu ihnen gesprochen hat.

Die Ratschläge der Personalität bedeuten immer Zerstörung. Anstatt ruhig zu bleiben, sagt sie bei der geringsten Kränkung zum Menschen: »Greif ihn an, vernichte ihn.« Während die Individualität rät: »Warte ein bisschen, bete für ihn, schick ihm ein paar gute Gedanken. Es kann sein, dass er sich ändert und danach wirst du einen Freund haben; andernfalls wirst du einen Feind haben. – Mach dir keine Sorgen, niemand kann dich zerstören, du besitzt die Ewigkeit. Habe ein bisschen mehr Licht, ein bisschen mehr Liebe!« Das sind die Ratschläge der Individualität.

2. der Fähigkeit, zwischen Mittel und Ziel zu unterscheiden

Das, was für die Menschen das Ziel ist, muss zum Mittel werden, und ihre Mittel müssen zu Zielen werden. Zurzeit ist das Ziel der Menschen, ihre niedere Natur zufrieden zu stellen und ihre Neigungen und Instinkte zu befriedigen. Und als Mittel benutzen sie alles, was ihnen die Wissenschaft bietet, die Kräfte der Natur und sogar den Herrn! Auf diese Weise verwenden sie diese Mittel, die eigentlich göttlich sind, dazu, einem höllischen Ziel zu dienen. Von nun an sollte man das Gegenteil machen: Das, was zuvor das Ziel war, muss zum Mittel werden. Der physische Körper, der Bauch, die Geschlechtsorgane, das heißt die Impulse der niederen Natur, müssen zu Mitteln werden, um die erhabene Welt, das Licht zu erreichen. Wenn einem dieser Wandel gelingt, verändert sich alles. Auf diese Weise haben die Eingeweihten alles umgekehrt: das Ziel und die Mittel.

3. dafür sorgen, dass unsere Energien gelenkt werden

Wenn ihr die Menschen betrachtet, werdet ihr sehen, dass sie niemals an die Energie denken, die ihnen zum Leben gegeben wurde, wie unglaublich kostbar sie ist, wie sehr der Herr sie schätzt, wo ihr Ursprung ist und welche Arbeit die Natur geleistet hat, um ihnen diese Energie zu geben. Genau daran sieht man, dass der Mensch nicht entwickelt ist, denn er vergeudet seine Energien in unnützen Beschäftigungen oder aber in Wut und sinnlichen Ausschweifungen.

Es ist die denkbar schlechteste Basis für die Entwicklung, wenn man nicht weiß, wie man seine Energien einsetzen soll, denn man trägt dafür die Verantwortung. Der Himmel hat uns nicht Energien gegeben, damit wir sie vergeuden. Es wird notiert und aufgeschrieben, was wir damit machen. Im Buch der lebendigen Natur könnt ihr also Folgendes lesen: “Glückselig, die ihre physischen, gefühlsmäßigen und mentalen Energien dem Wohl der Menschheit, dem Reich Gottes und Seiner Gerechtigkeit weihen und sie dafür verwenden.

4. herausfinden, wie man seine Bedürfnisse am intelligentesten befriedigt

Wenn man von Entsagung spricht, dann sind die Leute entsetzt und sagen: “Aber wenn ich verzichte, dann werde ich sterben.” Und es stimmt, sie werden sterben. Wenn sie nicht verstehen, dass sie verzichten müssen, um etwas Besseres zu bekommen, werden sie sterben. Aber diejenigen, die den Sinn der Entsagung verstanden haben, wissen, dass sie es für sich selbst tun. Sie schaffen in sich einen leeren Raum, den dann die göttlichen Qualitäten füllen können. Man kann nicht eine Flasche füllen, wenn sie schon voll ist. Sicher, wenn sie mit dem Elixier des ewigen Lebens gefüllt ist, braucht man sie nicht zu leeren, wenn sie aber Schmutz und Schimmel enthält, wozu das alles aufbewahren?

In der Einweihungswissenschaft heißt es, dass Entbehrung in Wirklichkeit gar keine Entbehrung ist, sondern ein Ersetzen, eine Umwandlung, ein Versetzen in eine andere Welt. Es ist die gleiche Tätigkeit, die sich fortsetzt, aber mit so reinen, so lichtvollen Materialien, dass keine Gefahr mehr besteht. Auf diese Weise entbehrt ein Eingeweihter nichts: Er isst, er trinkt, er atmet, er liebt, aber in für den gewöhnlichen Menschen unbekannten Regionen und Bewusstseinszuständen.

Man sollte also alle niederen Neigungen in sich ersetzen durch Neigungen, Gewohnheiten und Wünsche von höherer Qualität. Die Methode, die die Leute allgemein anwenden, um sich vom Rauchen, vom Trinken, vom Bedürfnis nach Frauen oder Männern zu befreien, ist äußerst gefährlich: Sie unterdrücken das Verlangen, ohne es zu ersetzen. Diese Methode bringt sie aus dem Gleichgewicht und stürzt sie in die Leere. Man braucht einen Ausgleich. Es ist notwendig, die niedere Begierde durch eine höhere zu ersetzen. Deshalb haben diejenigen, die bei sich die Liebe unterdrücken wollen, nichts verstanden: Das ist gefährlich, das ist Verdrängung, das ist der Tod! In Wirklichkeit braucht man sich nichts zu versagen, braucht man nicht zu entsagen, sondern nur seinen Standort zu wechseln, die Liebe oben zu kosten, wo sie besser ist. Man muss oben tun, was man unten getan hat: Anstatt das Wasser aus einem Sumpf zu trinken, das von Mikroben wimmelt, sollte man aus einer reinen, kristallklaren Quelle trinken. Nicht zu trinken bedeutet den Tod. Es geht nicht darum, nicht zu trinken; nein, nur die Abwässer darf man nicht trinken. Man muss trinken, aber das göttliche Wasser. Die Natur hat die Dinge gut gemacht: Wir essen, wir trinken, wir atmen, wir lieben… und man braucht nichts zu unterdrücken, man muss nur seine Bedürfnisse veredeln oder sie auf höheren Ebenen leben.

Überlegt euch jedes Mal gut, ob ihr auf ein Bedürfnis verzichten wollt, das sehr stark in euch vorhanden ist, denn das ist eine schwer wiegende Entscheidung. Man sollte das Bedürfnis vielmehr ersetzen. Damit eure Bedürfnisse befriedigt werden, esst, trinkt, liebt und lebt ihr weiterhin, aber auf einer Stufe, die euch nicht den gleichen Gefahren aussetzt.

Dieser Text stammt aus dem Buch »Die neue Religion« von Omraam Mikhael Aivanhov, Kapitel 2: »Der Mensch und seine zwei Naturen«.
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